Thema Zukunft Europa

Othmar Karas hat seit 1999 in diversen Ausschüssen gearbeitet und ist heute Erster Vizepräsident des Europäischen Parlament. Mit ihm sprechen wir über den EU- Rechtsstaatlichkeitsmechanismus.

Show Notes

Othmar Karas kann auf mehr als 20 Jahre Erfahrung in Brüssel zurückblicken: Der ÖVP-Abgeordnete sitzt seit 1999 im Europäischen Parlament. Er hat in diversen Ausschüssen gearbeitet und ist heute Erster Vizepräsident des Europäischen Parlament. Mit ihm sprechen wir über den EU- Rechtsstaatlichkeitsmechanismus. Gleich nach drei kurzen Einstiegsfragen.

Creators & Guests

Composer
Peter Kollreider
Producer
Peter Kollreider
head of hoerwinkel

What is Thema Zukunft Europa?

Der offizielle Podcast des Verbindungsbüros des Europäischen Parlaments in Österreich.

TZE 22 - 11 - Othmar Karas
Othmar Karas (ÖVP) über Rechtsstaatlichkeit

INTRO
Willkommen, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, zu unserem Podcast Thema Zukunft Europa. Wir widmen uns in jeder Folge einer oder einem österreichischen Abgeordneten, und stellen Fragen zu Themen, die für die Zukunft Europas relevant sind.
Othmar Karas kann auf mehr als 20 Jahre Erfahrung in Brüssel zurückblicken: Der ÖVP-Abgeordnete sitzt seit 1999 im Europäischen Parlament. Er hat in diversen Ausschüssen gearbeitet und ist heute Erster Vizepräsident des Europäischen Parlament. Mit ihm wollen wir über den EU- Rechtsstaatlichkeitsmechanismus sprechen. Gleich nach drei kurzen Einstiegsfragen.

F: Herr Karas, wenn Sie es auf den Punkt bringen müssen: Wie hat sich das Parlament seit 1999, also in Ihrer Zeit als Europaabgeordneter, verändert?
A: Wir sind mehr geworden. 1999 waren wir 15 Mitgliedsstaaten, derzeit sind wir 27. Wir haben mehr Gewicht bekommen. Der Einfluss des Europäischen Parlaments ist stärker geworden, und die Debatten spiegeln die gesellschaftspolitischen Veränderungen und Entwicklungen natürlich wider. Daher ist leider die Kompromissfindung schwieriger geworden.

F: Sie sind Obmann des Vereins „BürgerInnen Forum Europa“ – eine überparteiliche Initiative. Warum ist Ihnen das wichtig – was will der Verein erreichen?
A: Mir geht in Österreich und mir geht in der Europäischen Union der Dialog ab, die sachliche Information ab. Und daher habe ich eine Plattform geschaffen, die Europa in Österreich parteipolitisch außer Streit stellen will, die überparteilich ist und die sich genau um diesen Dialog, um die Information und um die Erarbeitung von Konzepten für die Zukunft Europas bemüht.

F: Geht es nach Ihnen, wo steht die EU in 20 Jahren?
A: Die Europäische Union ist in 20 Jahren geeint oder gescheitert. Sie ist handlungsfähiger, sie ist agiler, sie ist schneller. Sie ist effizienter. Und sie ist der Sprecher des Kontinents in allen Fragen, die die Rolle Europas in der Welt betreffen.

F: Was muss passieren, dass die EU eben nicht scheitert?
A: Es muss die Einstimmigkeit abgeschafft werden. Europa muss demokratischer werden. Sie muss mit Mehrheitsentscheidungen alle Entscheidungen treffen. Und Europa muss wettbewerbsfähiger, sozialer, digitaler und effizienter werden.

Nun zum Thema: Rechtsstaatlichkeit in der EU. Will ein Land Mitglied in der EU werden, muss es diverse Auflagen erfüllen. Doch was passiert, wenn ein Land, das schon EU-Mitglied ist, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit wieder aushebelt?
Der EU-Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, 2014 eingeführt, wurde 2021 überarbeitet. Nun können EU- Regierungschefs – mit Mehrheitsbeschluss und mit Unterstützung des Europäischen Parlaments – einem Mitgliedsland Haushaltsmittel der EU entziehen, sprich: Gelder streichen. Und zwar zum Beispiel, wenn die Regierung des jeweiligen Landes die Unabhängigkeit der Gerichte gefährdet.
Polen und Ungarn klagten vor dem Europäischen Gerichtshof, doch der EuGH wies die Klage ab. Der EU-Rechtsstaatmechanismus ist rechtens. Er dürfe angewendet werden, wenn EU-Geld nicht ordnungsgemäß verwendet wird. Im April 2022 hat die EU-Kommission den Mechanismus zum ersten Mal ausgelöst, und zwar gegen Ungarn. Darüber sprechen wir jetzt mit Othmar Karas, Erster Vizepräsident des Europäischen Parlaments.

F: Herr Karas, Im Dezember war klar: Die Mehrheit der EU-Staaten wird Gelder für Ungarn einfrieren. Davor hatte Ungarn ebenfalls milliardenschwere EU-Finanzhilfen für die Ukraine blockiert. Und auch einen globalen Mindeststeuersatz für Unternehmen. War das ein Erpressungsversuch?
A: Eindeutig ein Erpressungsversuch. Das ist eine richtige Entscheidung, die die Kommission getroffen hat. Ein Mechanismus, den das Parlament durchgesetzt hat, nämlich der Rechtsstaatsmechanismus, der Konditionalitätsmechanismus wird hier ausgenützt, um andere Maßnahmen, die damit nichts zu tun haben, zu blockieren. Das ist unverantwortlich, das ist erpresserisch, das ist undemokratisch.

F: Man hat sich geeinigt, nicht 7,5 Milliarden, sondern 6,3 Milliarden nicht auszuzahlen. Damit solle anerkannt werden, dass Ungarn bereits einige der 27 geforderten Maßnahmen getroffen habe. Ungarn hat unter anderem angekündigt, eine neue Anti-Korruptions-Behörde zu schaffen und das Verabschieden von Gesetzen im Eilverfahren zu beenden. Wie glaubwürdig sind diese Ankündigungen?
A: Ja, mir fehlt im Moment natürlich der Glaube, weil der Vertrauensverlust, den das Verhalten der ungarischen Regierung und vor allem des Ministerpräsidenten Orban in den letzten Jahren in der Frage der Migration, aber auch in der Frage des Rechtsstaats-Mechanismus, in der Frage des Kampfes gegen Korruption ... diesen Vertrauensverlust, den er durch diese Maßnahmen geschaffen hat, den muss er jetzt einmal beweisen, dass er es mit allen Ankündigungen ernst macht und dass er die Ursachen des Vertrauensverlustes, der endlich bereit ist, zu bekämpfen.

F: Erst im September hat das Europäische Parlament Ungarn den Demokratie-Status abgesprochen, das Land sei zu einem „hybriden System der Wahlautokratie“ geworden. Und man hat bedauert, „dass das Fehlen entschlossener Maßnahmen der EU zu einem Zerfall der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn beigetragen hat.“ Wann und wie hätte die EU handeln müssen?
A: Ja zum Ersten, das ist eine richtige Analyse, die dem Europäischen Parlament vorgenommen wurde, über den Zustand der Politik in Ungarn. Zum zweiten hätten wir wahrscheinlich früher die Fehlentwicklungen in Ungarn politisch zum Thema machen müssen. Und zum Dritten hätte der Rat das bereits vor Jahren eingeleitete Artikel-7-Rechtsstaatsverfahren beschließen sollen.

F: Beim Artikel-7-Verfahren, das es schon seit 1997 gibt, geht um den Schutz der Grundwerte der EU. Artikel 7 regelt mögliche Sanktionen, wenn diese Werte verletzt werden. Zum Beispiel, dass einem betroffenen Mitgliedstaat das Stimmrecht entzogen werden kann. Bei Ungarn ist das nie passiert. Warum kam es nie soweit?
A: Das Parlament ist nicht am Zug, sondern das Parlament hat des Artikel-7-Verfahren mit großer Mehrheit mit eingeleitet. Die Kommission hat diese diesem damaligen einzigen Mechanismus gegen Rechtsstaatsverletzungen vorzugehen, unterstützt. Und die Staats- und Regierungschefs im Rat blockieren das seitdem. Das liegt auch darin, dass das Artikel-7-Verfahren Einstimmigkeit voraussetzt. Und die Einstimmigkeit ist und bleibt ein Erpressungs- und Blockade-Instrument.

F: Dass die EU-Mitgliedsstaaten Geldüberweisungen an Ungarn zurückhalten wollen, das ist neu. Wie sahen denn Sanktionsmöglichkeiten bisher aus?
A: Die Kommission hat immer ein Instrument gehabt, weil sie hat das Vertragsverletzungsverfahren gehabt, weil sie den Gang zum Europäischen Gerichtshof hat, weil sie die politisch öffentliche Debatte als Möglichkeit hat. Aber vorwiegend waren es Vertragsverletzungsverfahren auf der einen Seite und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auf der anderen Seite. Diese beiden Verfahren sind aufrecht, werden auch sehr stark gehandhabt. Es wurde dann um dieses Artikel-7-Verfahren, von dem ich zuerst gesprochen habe, ergänzt, das leider aber die Schwierigkeit hat, dass sich die Sünder selbst decken können und damit den Mechanismus blockieren. Was bei Polen und Ungarn und bei anderen Ländern immer wieder passiert hat. Das ist ein zahnloses Verfahren. Und das Europäische Parlament hat daher den Hebel genutzt, die Zustimmung für den größten Investitionsfonds, der die Europäische Union je geschaffen hat, nämlich „The Next Generation EU Fonds“, als Antwort auf die Pandemie dazu zu nützen, zu sagen, es kann nur jenes Land Geld aus diesem Topf, der ausschließlich in die Zukunft gerichtet ist, bekommen, wenn garantiert ist, dass das Geld bei den Bürgern ankommt und in die Projekte, die vorgegeben sind, investiert wird und nicht in die in Vetternwirtschaft, in Korruption, in rechtsstaatslose Projekte gehen. Und daher ist der zum ersten Mal jetzt greifbar und wird gegenüber Ungarn eingesetzt.

F: Im Jahr 2020 gab es den ersten Jahresbericht über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in der gesamten EU. Der Bericht umfasst vier Eckpfeiler der Rechtsstaatlichkeit: die nationalen Justizsysteme, die Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus und -freiheit sowie andere institutionelle Aspekte im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung. Welche Rolle spielen diese jährlichen Berichte?
A: Zum Ersten Mal ist mal ganz wichtig ... diese Berichte geben der Europäischen Kommission das Recht, die Situation in den Mitgliedstaaten zu überprüfen. Selbst zu analysieren, und damit Öffentlichkeit für Fehlentwicklungen in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Diese Berichte sind ein Weckruf. Und es ist auch ganz wichtig, dass man damit auch zum Ausdruck bringt, dass die Verletzungen von Recht und Werten in einem Mitgliedstaat nicht eine Privatangelegenheit des Mitgliedstaates sind, sondern dass durch jede Fehlentwicklung in einem Mitgliedstaat die gesamte Europäische Union und alle Bürgerinnen und Bürger in Mitleidenschaft gezogen werden. Das sehen Sie jetzt an der Migrations- und Flüchtlingsdebatte. Das sehen Sie bei der Frage der Unabhängigkeit der Medien oder der Unabhängigkeit der Justiz. Und dass diese Grundlage an den Aktionen Folgen in der Öffentlichkeit, in den Mitgliedstaaten und durch die Europäische Union und ihre Institutionen hat.

F: Welche Entwicklungen in EU-Mitgliedstaaten machen Ihnen die meisten Sorgen?
A: Die Vertrauenskrise in die Arbeit, in die Institutionen, in die politischen Handelnden, auch in die politischen Parteien, weil die Vertrauenskrise zu einer Demokratiekrise führen kann. Und zum Zweiten: Der Mangel an Lösungen. Und der Mangel an Lösungen besteht deshalb, weil manche Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen durch ihr Veto blockieren.

F: Wie kann die Politik, wie können Sie als Politiker das Vertrauen wiedergewinnen?
A: Indem man das tut, was man für notwendig und für richtig erachtet, indem man das umsetzt, was man versprochen hat und in dem man Mehrheiten dafür schafft für das, was eigentlich an Vorschlägen am Tisch liegt.
Mir ist wichtig, dass wir den Rechtsstaatmechanismus und überhaupt den Rechtsstaat und die Verteidigung unserer Werte, der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgelegt sind, zur Grundlage des politischen Handelns machen. Und Recht und Werte und Demokratie gehören zusammen. Wer das Recht bricht, wer Recht infrage stellt, schwächt auch die Demokratie, schwächt die liberale Demokratie. Und dieser Zusammenhang: Friede, Freiheit, Demokratie, Parlamentarismus, Recht und Werte, das gehört zur europäischen DNA, ist Teil der europäischen Identität und macht uns auch wettbewerbsfähiger gegen alle anderen Kontinente.

Host: Herr Karas, danke fürs Gespräch.
Karas: Herzlichen Dank für die Möglichkeit, mit Ihnen zu sprechen.

Dieser Podcast wird im Auftrag des Europäischen Parlaments produziert und kommt aus dem Podcast-Studio hoerwinkel in Wien.
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