Thema Zukunft Europa

Wie haben sich Corona-Lockdowns auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt? Und wie sollen die europäischen Staaten handeln? Wir sprechen darüber mit Hannes Heide .

Show Notes

Diesmal zu Gast ist Hannes Heide. Er ist Europaabgeordneter der SPÖ und unter anderem Mitglied im Kultur- und Bildungsausschuss. Er hat sich mit den Fragen beschäftigt: Wie haben sich Corona-Lockdowns auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt? Und wie sollen die europäischen Staaten handeln? Wir sprechen mit ihm darüber, welche Programme die Union den Europäischen Jugendlichen bietet. - Gleich nach einer kurzen Kennenlern-Runde. 

Creators & Guests

Composer
Peter Kollreider
Producer
Peter Kollreider
head of hoerwinkel

What is Thema Zukunft Europa?

Der offizielle Podcast des Verbindungsbüros des Europäischen Parlaments in Österreich.

TZE 22 - 07 - Hannes Heide
Hannes Heide (SPÖ) über die mentale Gesundheit von Jugendlichen

Willkommen liebe Zuhörerinnen und Zuhörer zu unserm Podcast Thema Zukunft Europa. Wir widmen uns in jeder Folge einer oder einem österreichischem Abgeordneten und stellen Fragen zu Themen, die für die Zukunft Europas relevant sind.
Heute zu Gast ist Hannes Heide. Er ist Europaabgeordneter der SPÖ und unter anderem Mitglied im Kultur- und Bildungsausschuss. Er hat sich mit den Fragen beschäftigt: Wie haben sich Corona-Lockdowns auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt? Und wie sollen die europäischen Staaten handeln? Wir sprechen mit ihm darüber, welche Programme die Union den Europäischen Jugendlichen bietet. - Gleich nach einer kurzen Kennenlern-Runde.

F: Herr Heide, Sie sitzen seit 2019 im Europäischen Parlament. Was sind denn so die ersten Sachen, die man lernt, wenn man nach Brüssel kommt, nach Straßburg?
A: Also die erste Erfahrung in Brüssel ist, dass der Bus nur dann hält, der Busfahrer nur dann einen mitnimmt, wenn man auch ein Zeichen gibt. Aber im Ernst, die Erfahrung ist, dass die Europäische Union viel näher ist, als man denkt. Also auch ich, der in der Politik war … und generell schaffen die ersten Tage das Bewusstsein. Es gibt keine Entscheidung in der Europäischen Union, wo nicht mindestens eine Österreicherin, ein Österreicher beteiligt ist und dass sehr viele Entscheidungen der Europäischen Union tatsächlich, was Förderungen betrifft, in den Mitgliedsstaaten passieren. (…)

F: Sie arbeiten im Ausschuss für Kultur und Bildung – warum?
A: Das kommt von meiner Biographie, ich war im Kulturmanagement tätig und ich halte Bildung für das zentrale Thema der Politik. Und wenn Sie mich fragen, was die drei wichtigsten Themen der Politik sind, dann würde ich sagen Bildung, Bildung, Bildung.

F: Stichwort Kultur und Biografie, dazu muss ich Sie fragen, da stechen zwei Einträge heraus: Sie waren vor 20 Jahren für Hubert von Goisern PR-Manager und Tourneemanager. Lernt man daraus was für die Politik, und falls ja, was?
A: Absolut. Man hat viel mit Menschen zu tun. Man lernt viele Menschen kennen, man arbeitet mit ihnen an gemeinsamen Zielen. Und so eine Tournee oder eine Kulturveranstaltung ist sowohl organisatorisch als auch logistisch eine große Herausforderung. Und so wie es in der Politik ist, sind auch schnelle Entscheidungen gefragt.

F: Letzte kurze Frage: Wo soll die EU in zwanzig Jahren stehen? Was ist Ihre europapolitische Vision?
A: Im Bewusstsein der Menschen und vor allen Dingen in Österreich soll im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger sein, dass diese Europäische Union das beste Modell für unser Zusammenleben ist. Es braucht gute Zustimmungsraten und es braucht eine hohe Akzeptanz für die europäische Politik. Denn nur auf diese Art und Weise können wir die großen Probleme und Herausforderungen lösen, die nur grenzüberschreitend angegangen werden können.

Nun zum Thema: Seit zwei Jahren plagt uns das Thema Corona. 2020 reagierten viele europäische Länder mit Lockdowns auf die Bedrohung. Besonders betroffen von den Maßnahmen: Kinder und Jugendliche. Vieles trug dazu bei, dass sich ihr psychisches Wohlbefinden deutlich verschlechtert hat … durch Einsamkeit, Isolation, oder Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten. Hannes Heide widmet sich dem Thema. Er koordinierte einen Bericht darüber, wie sich geschlossene Bildungs-, Kultur, Jugend- und Sporteinrichtungen in der EU ausgewirkt haben. Mitte Juli hat der Bildungsausschuss im Europäischen Parlament den Bericht angenommen.

F: Herr Heide, wie geht’s Kindern und Jugendlichen in Europa heute?
A: Kinder und Jugendliche gehören sicher zu jener Gruppe in unserer Gesellschaft, die von den Auswirkungen der Krise am meisten betroffen gewesen sind. Die Schulen waren geschlossen, Sport- und Freizeiteinrichtungen waren geschlossen, es gab keine Kulturveranstaltungen. Den Jugendlichen und Kindern wurde jede Möglichkeit genommen an gemeinsamen Aktivitäten teilzunehmen, sich zu treffen. Und genau das sind die Voraussetzungen für geistiges und körperliches Wohlbefinden. Und … de facto haben Sie fast zwei Jahre Ihres Lebens verloren. Denken Sie, oder denken wir an einen 18-jährigen, heute 18-jährigen: Der hat in den letzten zwei Jahren wenig Möglichkeiten gehabt, seine Freundinnen und Freunde zu treffen. Und das ist genau die Zeit, wo man glaub ich das Leben genießt, aber auch die Zeit, wo die Ausbildung ganz wichtig ist und bedeutend ist. Und genau in dieser Zeit, da hat die soziale Begegnung einfach gefehlt. Und wir haben ja mit extremen Auswirkungen zu tun in unserer Gesellschaft. Und was diese Krise auch ganz besonders deutlich gemacht hat, das ist, dass junge Menschen aus sozial benachteiligten Verhältnissen noch einmal stärker darunter gelitten haben, weil Homeschooling aufgrund fehlender digitaler Infrastruktur oder auch beengte Wohnverhältnisse in vielen Fällen einfach unmöglich war.

F: Kann man das in Zahlen fassen? Wie geht’s den Jugendlichen heute verglichen mit vor drei Jahren, verglichen mit der Vor-Corona-Zeit?
A: Also während vor der Pandemie etwa 10 bis 20 % der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Problemen konfrontiert waren, ist diese Zahl jetzt auf 20 bis 25 % gestiegen. Das wissen wir. Der doppelte negative Effekt auf die Psyche von Jugendlichen, hat sich durch die fehlenden Möglichkeiten zu körperlicher, geistiger und kreativer Betätigung in der Gemeinschaft ergeben. Und Kinder aus finanziell schwächeren Familien, die vor der Schließung öffentlicher Freizeiteinrichtungen auch schon ungleich stärker betroffen waren, haben sich … jetzt hat sich die Situation noch einmal verschärft. Denken wir daran, was es bedeutet, gerade im urbanen Raum, wenn Parkanlagen geschlossen sind, Kinderspielplätze nicht zum Spiel geöffnet sind und Kinder überhaupt keine Möglichkeit zu Spiel und Sport außerhalb der Wohnung hatten in dieser Zeit. Dann sind das schon sehr drastische Probleme gewesen. Und diese Probleme wirken ja entsprechend nach.

F: Laut Kinderhilfswerk Unicef ist Suizid die zweithäufigste Todesursache unter Jugendlichen. Ist das neu? Eine Corona-Folge?
A: Absolut. Das ist eine Folge dieser Pandemie. Das ist eine Folge der Corona-Krise. Und eine aktuelle Studie aus Deutschland zeigt sehr deutlich und belegt diese traurige Entwicklung. Im Vergleichszeitraum vom März bis 31. Mai 2021 gab es in Deutschland viermal so viele Suizidversuche von Kindern und Jugendlichen wie im selben Zeitraum des Jahres 2020 und dreimal so viele Suizidversuche wie im gesamten Jahr 2019. Dieser Zeitraum, also Mitte März bis Ende Mai 2021, ist gerade deswegen von größter Relevanz, da sich Deutschland zu diesem Zeitpunkt in einen Lockdown befand. Und das bedeutete eben auch die Schließung von Schulen, Kulturstätten, Sport und Freizeiteinrichtungen. Das ist jetzt aber keine spezielle Situation in der Bundesrepublik Deutschland, sondern wir verfolgen diese Entwicklung auch in allen anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union. Ich habe gerade bei der Abstimmung von meinen kroatischen Kollegen im Europäischen Parlament ähnliche Zahlen aus Kroatien gehört.

F: Reden wir über die Möglichkeiten, die die Europäische Union den Jugendlichen anbietet. Sie haben Kultur und Freizeit erwähnt. Da gibt es Programme wie Erasmus, das kennen Studenten noch, aber auch Programme wie Kreatives Europa, das Europäische Solidaritätskorps, die sind nicht so bekannt. Erklären Sie kurz, was können diese Programme jetzt und auch in Zukunft leisten?
A: Erasmus hat sich auch entwickelt und ist jetzt Erasmus plus. Und das Ziel ist, möglichst vielen Menschen Zugang zu Bildungsaustauschprogrammen zu machen. Studenten, Studierende genauso wie Schülerinnen und Schüler, aber in Zukunft auch Lehrlinge und auch Menschen älterer Generation im Sinne von lebenslangem Lernen. Dazu bedarf es auch eine entsprechende Erhöhung der Budgets. Das gilt aber auch für das kreative Europa. Das ist das Programm für Kultur in der Europäischen Union. Das einzige Kulturprogramm, und das darf ich sagen, das nicht adäquat besetzt ist, wo also mehr finanzielle Mittel möglich sind. Es geht aber darum, auch den Kreativ-Sektor in Europa zu fördern, den gegenseitigen Austausch, die Kooperation, Digitalisierung und vor allen Dingen die sprachliche Vielfalt.
Und das europäische Solidaritätkorps soll jungen Menschen ermöglichen, im sozialen Austausch, im Freiwilligendienst in andere Länder zu gehen und dort zum Beispiel im Umweltschutz zu arbeiten. Oder aber auch in der Freiwilligen Feuerwehr, die in Österreich ja eine ganz große Bedeutung hat. Es geht um Austausch, es geht um europäische Idee, europäischen Geist zu vermitteln. Und das sind Programme, die Europa und die europäische Einigkeit gerade jungen Menschen vermitteln kann.

F: Sie fordern eine angemessene Finanzierung für diese Programme. Was sollte die Europäische Kommission, was sollten Mitgliedstaaten für Kinder und Jugendliche jetzt für die Zukunft umsetzen.
A: Europäische Politik ist dann erfolgreich, wenn die Mitgliedsländer, wenn auch wie es in Österreich ist, die Landesregierungen, die Gemeindeebene mit der europäischen Ebene gemeinsam Projekte umsetzt, Vorhaben umsetzt. Und es kann nicht oder sollte nicht die Europäische Union oder die Kommission allein tätig sein, sondern es muss ein Gesamtpaket sein. Jugendliche müssen in der Politik Bedeutung haben.
Ein Einzelprojekt dabei wäre es, dass jeder junge Mensch in Europa die Möglichkeit hat, einmal das Europäische Parlament und die europäischen Einrichtungen entweder in Brüssel oder in Straßburg besuchen zu können. Ich bin der Überzeugung, dass dazu auch ein Besuch in Auschwitz dazugehört. Auch das sollte ermöglicht werden. Und letztlich geht es auch darum, dass es keine unbezahlten Praktika mehr gibt. Das wären Maßnahmen, die für die Jugendlichen wichtig sind. Aber: Die zentralen Themen der Europäischen Union betreffen vor allen Dingen auch die Kinder und Jugendlichen, da sie ja die Zukunft dieses Projekts sind. Und daher sind Maßnahmen in Richtung Kampf dem Klimawandel oder auch Stärkung der Digitalisierung Themen, die für Jugendliche zentrale Bedeutung haben.

F: Bleiben wir beim Konkreten: Worauf sollen sich Kinder und Jugendliche in der EU in ein paar Jahren verlassen können? Entwerfen Sie eine Utopie.
A: Da würde ich als Bildungspolitiker selbstverständlich den Europäischen Bildungsraum ins Treffen führen. Das ist eine Vereinbarung der europäischen Staats- und Regierungschefs. Eigentlich sollte er ja bereits bis 2025 umgesetzt werden. Und da geht es um gegenseitige Anerkennung von in der EU erworbenen Schulabschlüssen. Es geht darum, wie die Schule der Zukunft aussehen will. Da geht es um lebenslanges Lernen, da geht es um Berufsbildung, da geht es um eine Stärkung der Lehre und auch um Angleichung von Lehrabschlüssen und Berufsausbildung. Da geht es um Kreativität und Kultur, um Sport, um digitale Kompetenzen, die alle in den Lehrplänen integriert werden müssen. Eine Schlüsselrolle haben dabei die Pädagoginnen und Pädagogen. Die gehören gestärkt. Auch die Ausbildung gehört gestärkt, weil jetzt auch aufgrund der Krise oder aufgrund der Krisen, wir haben ja auch den Krieg in der Ukraine zu bedenken, müssen soziale Kompetenzen und auch psychologische Fähigkeiten gestärkt werden. Wir müssen unsere Lehrerinnen und Lehrer sensibilisieren, dass sie psychische Probleme erkennen können und wenn rasches Handeln notwendig ist, damit Kindern auch schnell helfen können.
Und - Schulen gehören einfach gefördert, auch jetzt im Sinne von baulichen Maßnahmen. Sie müssen die Möglichkeiten geben, dass dort der Gemeinschaftssinn gefördert wird und dass gerade Kinder, die in oftmals schwierigen Familienverhältnissen haben, dort eine Möglichkeit haben, sich entsprechend zu entwickeln.

F: Herr Heide, die Europäische Union hat 2022 das Europäische Jahr der Jugend ausgerufen. Das dürfte an vielen vorbeigegangen sein. Was heißt das konkret, was ist schon passiert?
A: Die Europäische Union hat vor allen Dingen aus zwei Gründen dieses Jahr der Jugend ausgerufen. Der eine Grund ist: Es gibt wohl keine Gruppe in der Bevölkerung, die so überzeugt ist von der Notwendigkeit der europäischen Einigung wie die jungen Menschen. Sie sind die Zukunft der Europäischen Union. Und das Zweite ist: Es gibt keine Gruppe, die so schwer betroffen war von den Folgen von der Corona-Krise. Und leider ist dieses europäische Jahr der Jugend, das halbe Jahr ist ja schon vorbei, aus meiner Sicht sehr enttäuschend verlaufen. Wann immer ich in Diskussionen mit jungen Menschen trete, dann erfahre ich, dass das Jahr der Jugend bei ihnen nicht angekommen ist. Es dürfte sich um ein Jahr der Jugend handeln, das zwar bei den Organisationen und Institutionen angekommen ist, aber nicht bei den Jugendlichen draußen in den Schulen, draußen auf unseren Plätzen, draußen in den Lehrbetrieben. Und das finde ich schade…

F: … und was wäre nötig, ums erfolgreich zu machen?
A: Andere Voraussetzungen. Fördermöglichkeiten ganz klar geben, informieren, viel mehr in die Medien gehen. Aber das ist jetzt auch nicht nur eine Aufgabe der Europäischen Union. Es muss in den Mitgliedsländern ankommen, weil dort gibt es ja die Koordinatoren, die dann dafür verantwortlich sind.

Hannes Heide war das. Wir haben mit ihm über das Europäische Jahr der Jugend und die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendliche gesprochen. Danke fürs Gespräch.

Herzlichen Dank für die Möglichkeit zum Austausch.

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Dieser Podcast wird im Auftrag des Europäischen Parlaments produziert und kommt aus dem Podcast- Studio hoerwinkel in Wien.

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