Art, in all the wrong places

Ich erzähle einen kleinen, aber eindringlichen Moment, der mein eigenes Bedauern über meine Reaktion in einem bestimmten Moment unseres kollektiven Lebens widerspiegelt. Eine Reflexion darüber, wie leicht Angst unsere Wahrnehmung verzerren kann und uns vergessen lässt, was wirklich zählt: Mitgefühl und Hoffnung. Diese Arbeit hat den zweiten Preis beim Kurzhörspielwettbewerb der Hörspielwiese Kölln 2025 gewonnen.
"Eine Glanzleistung, die vor allem von der Stimme von M. Cristina Marras lebt."

Diese Arbeit ist eine Adaption und Neuinterpretation eines ursprünglich auf Englisch für Small Audio Art erstellten Audios, das auch von Radiophrenia 2025 veröffentlicht wurde.

What is Art, in all the wrong places?

Characters who can't always be trusted. Because they often don't see the difference between sound and noise, between countryside and abandoned building, between fiction and reality.
I explore sound, speak languages and talk to strangers. This is my work.
AIR Member. www.cristinamarras.com

Das Fenster war unser einziger Ausweg.

Naja, wenn du im vierten Stock lebst, Ausweg

ist nicht wirklich ein Weg.

Sagen wir so, das Fenster war die einzige

Verbindung, die ich, die wir, zur Welt draussen

hatten.

Als ich klein war, wir haben ständig Filme

über den Zweiten Weltkrieg gesehen.

Weil das die einzigen Filme waren, die sie

im Fernsehen gezeigt haben.

Oft, wenn ich diese Helden sah, die sich

opferten und nie zweifelten, fragte ich mich, was

hätte ich getan, wenn ich mich umgeben von

Propaganda, von normalem Wahnsinn und systematischer Gewalt gefunden

hätte?

Hätte ich die richtige Seite zum Kämpfen gewählt?

Damals hatte ich keine Zweifel.

Heute bin ich mir nicht mehr so sicher.

Also, ich erzählte gerade vom Fenster.

Wahnsinnig, wie schnell man sich an das Unmögliche

gewöhnt.

Weisst du, wenn du einen dystopischen Roman liest

und wütend auf die Hauptfigur bist, und du

denkst, mach doch was, reagier, kämpf!

Aber wenn du mittendrin bist, sieht es ganz

anders aus.

In einer Welt, in der Menschen zu Hause

eingeschlossen sind, ist das Fenster die einzige Öffnung

zur Welt.

Es war von meinem Fenster im vierten Stock,

dass ich sah, wie die Welt still stand.

Leere Strassen, stille Städte, eine verlassene Wirklichkeit.

Weisst du noch die Panik beim ersten Lockdown?

Wie die Angst uns misstrauisch machte.

Jedes Mal, wenn ich daran denke, spüre ich

einen Stich der Scham im Bauch.

Ich rede nicht von Impfungen, Verschwörungen oder angeblicher

Terrorstrategie.

Nein, wofür ich mich tief schäme und was

ich nicht vergessen oder zugeben kann, ist eine

kleine Geste, die mir Hoffnung hätte geben müssen.

Und stattdessen hat eine Reaktion ausgelöst, die ich

nicht erkenne.

Und jedes Mal, wenn ich daran denke, schäme

ich mich.

Aber hier ist sie trotzdem.

Ich stehe am Fenster.

Die Strassen sind leer.

Leer, leer, leer, wie du es dir nicht

vorstellen kannst.

Und das einzige Geräusch sind die Sirenen der

Krankenwagen.

Wir sind schon in der vierten oder fünften

Woche des Lockdowns.

Mit totalen Ausgangssperren, lange bevor es Impfstoffe gab.

Und die Medien, nonstop Bilder von hunderten Särgen zeigten,

Leichen, Menschen die wegen einer Erkältung ins Krankenhaus

gingen und nie wieder rauskamen.

Natürlich eriennest du dich dran.

Von meinem Fenster sehe ich zwei Gestalten, die

zueinander laufen.

Ein Junge und ein Mädchen, kaum älter als

Teenager.

Sie schleichen sich an, umarmen sich und, zu

meinem Ersetzen, küssen sich auf den Mund.

Ich zittere bei dem Gedanken an ihre Eltern

und Großeltern, die dem Virus ausgesetzt sind.

Ich zittere und werde wütend, urteile und verurteile.

Und heute kann ich nicht daran denken, ohne

mich tief zu schämen.

Ich hätte jubeln, klatschen und lächeln sollen.

Stattdessen stand ich da am Fenster, voller Angst

und Verachtung.

Und es tut mir so leid.

Unendlich leid.